Art. 4 GG – Glaubens- und Gewissensfreiheit

Schema

I. Schutzbereich
1. Sachlicher Schutzbereich
a. Glaubensfreiheit, Art. 4 I, III GG
Ein Glaube iSd Art. 4 GG ist eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens (Jarass, Rn. 8).

 

Die Glaubensfreiheit umfasst die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit schützt sowohl das Recht, einen Glauben zu haben (sog. forum internum), als auch das Recht, einen Glauben wahrnehmbar zu praktizieren und nach außen zu tragen (sog. forum externum). Ferner schützt sie in Gestalt der negativen Religionsfreiheit das Recht, einen Glauben nicht zu haben oder nach außen tragen zu müssen. So zum Beispiel die negative Glaubensfreiheit von Schulkindern gegenüber religiösen Zeichen ihrer Lehrer (BVerfGE 108, 282 – Lehrerin mit Kopftuch = NJW 2003, 3111, 3112).

 

Die Glaubensfreiheit bildet ein einheitliches Grundrecht (Jarass, Rn. 1). Obwohl in Art. 4 GG zwischen dem Bekenntnis in Absatz 1 und der Ausübung in Absatz 2 unterschieden wird, sind die Religions- und Weltanschauungsfreiheit gleichermaßen bezüglich forum externum und forum internum geschützt. Das wird damit begründet, dass in der Bekenntnis immer wieder ein Innehaben ausgedrückt wird; das eine kann also nicht vom anderen abgekoppelt werden.

 

aa. Religionsfreiheit
Religion ist ein Glaube mit transzendentalen, das heißt den Menschen überschreitenden und außerweltlichen (göttlichen), Bezügen (Jarass, Rn. 7).


Art. 140 GG inkorporiert die Artikel 136-139 und 141 WRV. Sie erhalten somit Verfassungsrang, Grundrechte sind ihnen aber nicht zu entnehmen. Sie gestalten die Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG lediglich aus.

 

Neben den klassischen, der fünf Weltreligionen niedergeschriebenen und allgemein bekannten Bekenntnissen, wie etwa das Tragen eines Kopftuchs einer Muslima, ist die individuelle Ausübung einer Religion anzuerkennen. Der Staat kann nicht entscheiden, wie man eine Religion richtig ausübt. Um trotzdem eine Prüfung vornehmen zu können, um Art. 4 GG nicht ausufern zu lassen, ist im Einzelfall durch die Gerichte eine Plausibilitätskontrolle vorgesehen. Dafür muss der Grundrechtsträger hinreichend substantiiert darlegen, dass die Handlung nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung plausibel religiös oder weltanschaulich motiviert ist (Jarass, Rn. 12).

 

bb. Weltanschauungsfreiheit
Unter Weltanschauung ist ein Glaube mit immanenten, das heißt innerweltlichen, Bezügen zu verstehen (Jarass, Rn. 7).

 

P: Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates (z.B. Kopftuchverbot an Schulen)

 

b. Gewissensfreiheit, Art. 4 I, III GG
Eine Gewissensentscheidung ist „ausschließlich die ernste sittliche, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“ (BVerfGE 153, 182 – Verbot des 
§ 217 StGB = NJW 2020, 905, 918), und somit nicht bereits eine feste Überzeugung (Jarass, Rn. 45).

 

2. Persönlicher Schutzbereich
Die Religionsfreiheit ist ein Jedermann-Grundrecht.

 

P: Kirche als Beschwerdeführer
Besonderheiten können sich ergeben, wenn die Kirche durch ihre Vertreter ihre Rechte aus Art. 4 I GG geltend macht. Als juristische Person des öffentlichen Rechts ist sie grundsätzlich nicht grundrechtsberechtigt, Art. 19 III GG (siehe Schema zur Verfassungsbeschwerde, wo das Problem auch in der Beschwerdebefugnis gelöst werden kann). Ausnahmsweise ist die Kirche aber in Bezug auf Art. 4 I GG grundrechtsberechtigt, da sie den Ausnahmetatbestand erfüllt, der die folgenden Voraussetzungen hat:

 

- Sie ist vom Staat hinreichend unabhängig, vgl. Art. 140 GG iVm Art. 137 WRV, welches das das Verbot der Staatskirche vorsieht.


- Sie muss sich in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden, das heißt ausgehend von ihrer Funktion vergleichbar mit einem Privaten der staatlichen Gewalt unterworfen sein.


- Sie dient der Sicherung individueller Rechte, das heißt, weist ein sog. personales Substrat auf. Sie dient der kollektiven Religionsausübung. Als juristische Person kann sie zwar keinen Glauben haben, aber religiöse Zwecke verfolgen (BVerfGE 105, 279 – Informationen über religiöse und weltanschauliche Vereinigungen = NJW 2002, 2626, 2626).

 

Beispiel: Wenn der Kirche die Öffnung für die Öffentlichkeit versagt wird, befindet sie sich in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage, da sie dem Staat wie ein Einzelner ausgeliefert ist. Sie dient in ihrer Funktion der Sicherung der individuellen Glaubensfreiheiten ihrer Mitglieder und Besucher.

 

Vertiefung: Religionsgemeinschaften
Religionsgemeinschaften sind grundrechtsverpflichtet, soweit ...

 


Quellen: 
Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 9. Auflage, Art. 4 Rn. 25. 
Jarass, Pieroth, Grundgesetz, 17. Auflage, 2022, Art. 4 Rn. 7, 8.
BVerwG 6C 12/12 – Krabat = NVwZ 2014, 237.
BVerfGE 102, 70 – Zeugen Jehovas = NJW 2001, 429.
BVerfGE 108, 282 – Lehrerin mit Kopftuch = NJW 2003, 3111.
BVerfGE 105, 279 – Informationen über religiöse und weltanschauliche Vereinigungen = NJW 2002, 2626.
BVerfGE 153, 182 – Verbot des § 217 StGB = NJW 2020, 905.
Kingreen/Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, 36. Auflage, 2020.

 


12.05.2023

Das vollständige Schema findest Du auf der heruntergeladenen PDF.
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