Schema
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
2. Subjektiver Tatbestand
II. Rechtswidrigkeit
Merke: Vor der Prüfung des § 32 StGB ist zumindest kurz (chronologisch) die rechtfertigende Einwilligung, die mutmaßliche Einwilligung und dann das Festnahmerecht nach § 127 StPO anzudenken.
1. Objektiver Rechtfertigungstatbestand
a. Notwehrlage
Gefordert ist ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf ein Individualrechtsgut.
aa. Angriff
Ein Angriff ist jede durch menschliches (!) Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Interessen (Schönke/Schröder/Perron/Eisele, Rn. 3, StGB § 32 Rn. 3).
P: Scheinangriff
Der Begriff „Scheinangriff“ beschreibt den Fall, in dem das Opfer denkt, dass ein Angriff auf seine Rechtsgüter stattfindet und daher Notwehr leistet. Tatsächlich besteht ein solcher Angriff aber gar nicht. Da es sich hierbei um einen sog. Erlaubnistatbestandsirrtum handelt, wird dieses Problem im Skript zur Irrtumslehre behandelt. Siehe zur Vertiefung auch: Hoffmann-Holland, S. 80 f.
bb. Gegenwärtigkeit
Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn die Verletzung unmittelbar bevorsteht, begonnen hat oder noch nicht abgeschlossen ist.
P: Gegenwärtige Notwehrlage bei Dauergefahren
Ein Standardproblem im Rahmen der der Notwehr ist, ob Dauergefahren oder sog. Präventivnotwehrsituationen vom Gegenwärtigkeitsbegriff des § 32 StGB miterfasst sind (MüKoStGB/Erb, § 32 Rn. 106 ff.).
Beispiel:
Ein Mann übt jahrelang Gewalt gegenüber seiner Ehefrau aus. Nach Jahren des Terrors weiß sich die Ehefrau nicht anders zu helfen und erschießt ihren Ehemann, als dieser gerade schläft (sog. Haustyrannenfall).
Meinung 1:
In solchen Fällen liegt ein gegenwärtiger Angriff im Sinne von § 32 StGB vor.
Argumente:
Ein umfassender Rechtsgüterschutz des Verteidigenden erfordert eine weite Auslegung des Begriffs "Gegenwärtigkeit" bei § 32 StGB. Außerdem braucht das Recht dem Unrecht nicht zu weichen (Prinzip der Rechtsgüterbewahrung). Außerdem wäre in solchen Fällen ein Abwarten auf einen neuen akuten Angriff für das Opfer unzumutbar, da es körperlich unterlegen ist.
Meinung 2:
In solchen Fällen liegt kein gegenwärtiger Angriff im Sinne von § 32 StGB vor (Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 32 Rn. 13).
Argumente:
Präventivmaßnahmen stehen allein dem Staat und nicht Privaten zu. § 32 StGB erfordert eine restriktive Auslegung der Notwehrlage, weil bei der Notwehrhandlung keine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt.
§ 34 StGB ist in solchen Fällen sachgerechter, da die gegenseitigen Interessen abgewogen werden können.
cc. Rechtswidrigkeit
Ein Angriff ist rechtswidrig, wenn er nicht durch Rechtfertigungsgründe gedeckt ist.
Entsprechend wird geprüft, ob der Angreifende seinerseits womöglich gerechtfertigt ist.
b. Notwehrhandlung
Die Notwehrhandlung muss geeignet, erforderlich und geboten sein.
aa. Geeignetheit
Jedes zur Abwehr des Angriffs taugliche Mittel ist geeignet. Nur völlig ungeeignete Mittel sind problematisch.
bb. Erforderlichkeit
Eine Handlung ist dann erforderlich, wenn sie das mildeste gleich geeignete Mittel darstellt.
Das ist aus einer ex-ante Sicht, das heißt aus der Sicht des Notwehrtäters zu dem Zeitpunkt der Notwehrlage zu bestimmen. Demnach ist heranzuziehen, wie schnell ein Täter reagieren musste. Auf einen Kampf mit ungewissen Mitteln muss sich der Täter nicht einlassen, vielmehr darf es das sicherste Mittel wählen.
Eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter (z.B. Leben gegen Leben oder Leben gegen Eigentum) findet nicht statt.
P: Nutzung einer lebensbedrohlichen Waffe
Das Notwehrrecht umfasst auch die Möglichkeit, eine lebensgefährliche Waffe, wie z.B. eine Schusswaffe oder ein Messer mit einer langen Klinge, einzusetzen. Hat der Täter in der konkreten Situation allerdings noch genug Zeit abzuwägen, ob der die lebensbedrohliche Waffe einsetzt, so sind an die Erforderlichkeit einschränkend folgende drei Voraussetzungen zu stellen (MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, § 32 Rn. 165 ff.):
(1) Soweit möglich, Waffengebrauch ankündigen (Warnschuss).
(2) Danach erst versuchen, den Angreifer kampfunfähig zu machen (Schuss in Arm oder Bein).
(3) Letztes Mittel: Die Tötung des Angreifers ist erlaubt.
cc. Gebotenheit
Eine Verteidigungshandlung ist dann nicht geboten, wenn sie aus sozial-ethischen Gründen eingeschränkt werden muss (Fischer, § 32, Rn. 36).
(1) Einschränkung des Notwehrrechts
Das Notwehrrecht ist einzuschränken bei:
- Angriffen von offensichtlich Schuldlosen
- Fahrlässige Provokation des Angriffs
- Enge persönliche Beziehung des Verteidigers zum Angreifer
Dann kommt folgendes sog. „Drei-Stufen-Modell“ zum Tragen.
Stufe 1: Ausweichen
Ist dies nicht möglich, dann Stufe 2.
Stufe 2: Verhältnismäßige Schutzwehr
Ist dies nicht möglich oder unwirksam, dann Stufe 3.
Stufe 3: Verhältnismäßige Trutzwehr
P: Einschränkung des Notwehrrechts bei „Aufrüstung“:
Umstritten ist eine Einschränkung des Notwehrrechts in den Fällen, in denen sich der Notwehrleistende kurz vor der Notwehrhandlung noch schnell „aufrüstet“.
Beispiel:
A kommt auf B zugestürmt. B lässt sich von C noch schnell ...
Quellen:
Schönke/Schröder/Perron/Eisele, 30. Aufl. 2019 Rn. 3, StGB § 32 Rn. 3, 13 ff.
Fischer, 67. Auflage 2020, § 32, Rn. 36.
Fischer 69. Auflage 2022, § 32, Rn. 25.
Hoffmann-Holland, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Auflage, S. 80.
Münchener Kommentar zum StGB / Erb, 4. Aufl. 2020, § 32 Rn. 106 ff.; 165 ff.; 239 ff.
19.05.2023